Verschiedenheit einüben, nicht einebnen | Religion braucht Bildung – Bildung braucht Religion

Der Religionsunterricht stellt den Wertebildungsauftrag ins Zentrum seiner pädagogischen Bemühungen. In unserer religiös heterogenen Gesellschaft ist das wichtiger denn je.

Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) setzt sich also für ein Schulfach ein, das Demokratie, Ethik und Werte lehrt und für Schülerinnen und Schüler aller Schulstufen verpflichtend sein soll. Einmal abgesehen von der Frage, ob das, was Wiederkehr an Haltungen und Grundeinstellungen hervorrufen will, nicht eher durch Vorbild und im Schulalltag vermittelt wird als in einem Unterrichtsfach: Das Anliegen, der Demokratieerziehung in der Schule mehr Aufmerksamkeit zu schenken, kann nur unterstützt werden. Es ist längst Konsens, dass junge Menschen zu mündigen, verantwortlichen Akteuren gebildet werden sollen, die aktiv und kritisch Gesellschaft mitgestalten können und damit Demokratie ermöglichen. Genau deshalb ist aber das Ansinnen problematisch, den propagierten neuen Unterrichtsgegenstand zulasten des Religionsunterrichts („optional“, „Freifach“) einzuführen – damit würde einem undemokratischen Zugang Schützenhilfe geleistet.

Warum? Der freiheitliche, demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich selbst nicht geben kann, so das viel zitierte Theorem des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde. Das heißt: Ein friedliches Zusammenleben auf Basis einer demokratischen Verfassung lebt von Bürgerinnen und Bürgern, die fähig sind, selbstständig und mit nötiger reflexiver Auseinandersetzung zu einem moralischen Konsens zu finden. Das kann der Staat allein nicht gewährleisten. In einem von pluralen Weltanschauungen geprägten Gemeinwesen spielen in dieser ethischen Konsensfindung philosophische Traditionen ebenso eine Rolle wie ethische Argumente unterschiedlicher religiöser Provenienz. Oder anders gesagt: In der Frage, welches Handeln gut ist, lassen sich Menschen nicht nur von Lehrplänen und dem Strafgesetzbuch leiten, sondern von dem, woran sie glauben.

“Das Klassenzimmer ist Abbild und Mikrokosmos der Gesellschaft.”
Religiöse Bildung ist etwas, das geschieht, ob der Staat es will oder nicht. Und sie hat Auswirkungen auf die Konsensfindung in der Gesellschaft – gerade und besonders in einer diversen Gesellschaft. Indem der Staat religiöse Bildung im öffentlichen Raum und nicht bloß im Privaten ermöglicht, kommt er seiner Aufgabe nach, Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern reifen zu lassen, die auch ihre Religionsfreiheit angemessen wahrnehmen und ausüben können. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass die Religionsgesellschaften diesen Unterricht unter staatlicher Aufsicht selbst verantworten. Auszeichnung eines demokratischen Staates ist es, differente Zugänge nicht nur zuzulassen, sondern auch möglichst frühzeitig im Leben den Menschen zu ermöglichen, das friedliche Miteinander ihrer Verschiedenheiten einzuüben. Es geht ums demokratische Einüben, nicht Einebnen der Unterschiede. Dass es in der Schule verschiedenen wertebildenden Unterricht gibt wie den Philosophie- und Ethikunterricht und eben den jeweiligen konfessionellen Religionsunterricht, ist damit ein Zeichen der Pluralitäts- und Demokratiefähigkeit der Gesellschaft. Die Negierung der Pluralität der Zugänge zugunsten eines Einheitsprogramms wäre hingegen eine Einbuße des demokratischen Prinzips.

Toleranter Umgang
Das Klassenzimmer ist Abbild und Mikrokosmos der Gesellschaft. Hier treffen Kinder und Jugendliche unterschiedlichster kultureller, religiöser und sozialer Prägung aufeinander. Aufgabe der Schule ist es nicht, diese Kinder und Jugendlichen zu missionieren, sondern sie zu lehren, sich mit den eigenen kulturellen und religiösen Prägungen und biografischen Erfahrungen reflexiv und fachkundig begleitet auseinanderzusetzen. Und das in Wahrnehmung und Würdigung der Unterschiede. Das nennt man den Wertebildungsauftrag des Schulsystems. Auch der Religionsunterricht stellt diese Aufgabe ins Zentrum seiner pädagogischen Bemühungen. / Andrea Pinz

Gesamter Artikel / derStandard / 17. Juni 2024: https://www.derstandard.at/story/3000000224474/verschiedenheit-einueben-nicht-einebnen


 

Religion braucht Bildung – Bildung braucht Religion

Der Religionsunterricht stärkt die Demokratie – er zwingt die Gemeinschaften aber auch, sich einer aufgeklärten Gesellschaft zu erklären. Ihn außerhalb der Schule anzusiedeln könnte gefährlich sein. Sorgen über radikale Tendenzen und einen aggressiven politischen Islam, “der neben sich keine andere Religion duldet”, macht sich Michael Völker in seinem Kommentar „Stoppt den Religionsunterricht an Schulen“. Er ist sich sicher: “Religionsunterricht, unterteilt in katholisch, protestantisch, orthodox und islamisch, ist mit Sicherheit keine Lösung, die uns weiterbringt.” Das scheint ihm so gewiss, dass er es auch nicht weiter begründen muss.

Das Gegenteil ist richtig. Schon seine Analyse macht deutlich, dass ein Merkmal unserer modernen Gesellschaft wohl nicht die Abwesenheit von Religion, sondern eher eine wachsende religiöse Pluralität ist – auch in der Schule. Dass Leben in einer Demokratie gelingt, ist Aufgabe aller Beteiligten und somit auch Aufgabe der Religionsgemeinschaften. Gerade der konfessionelle Religionsunterricht bedingt eine Anerkennung anderer Religionen und bietet ein interreligiöses Lernfeld. Denn nur wer über seine eigene Prägung Bescheid weiß, kann in Dialog treten.

Demokratie und Menschenrechte stärker in der Schule zu verankern ist begrüßenswert. Das von den Neos angedachte Unterrichtsfach “Leben in einer Demokratie” verdient eine Diskussion, hat mit der religiösen Herkunft und seiner Reflexion im Religionsunterricht aber wenig zu tun. Den Religionsunterricht als Anlass für diesen Vorschlag zu nehmen unterstellt, dass dort kein Beitrag zum Demokratieverständnis geleistet wird, und unterstellt zudem implizit, dass Menschen ohne Religion automatisch eine demokratischere Gesinnung hätten. Wer allerdings religiöse Bildung ins Private zurückdrängen will, trägt zum Obskurantismus und zum Missbrauch von Religion und damit gerade zur Radikalisierung unter dem Deckmantel der Religionen bei.

Kompetenzen und Werte
Fundamentalisten aller Religionen und Weltanschauungen zeichnen sich gerade nicht durch eine vertiefte Reflexion und Kenntnis ihres Gegenstands aus. Die Verbindung zwischen Demokratie, Bildung und Religion sichtbar zu machen ist vor dem Hintergrund der Erosion demokratischer Werte unumgänglich. Daher spielt der Religionsunterricht eine wichtige Rolle in der Stärkung der Demokratie, indem er Lernenden grundlegende Kompetenzen und Werte vermittelt, die für den Zusammenhalt in einer demokratischen Gesellschaft unerlässlich sind.

Der Religionsunterricht hat Teil am allgemeinen Bildungsziel der Schule und leistet einen grundlegenden Beitrag zur religiös-ethischen Bildungsdimension der Schule, indem er die Schülerinnen und Schüler in ihrer Suche nach Sinn unter den Bedingungen der Pluralität unterstützt. Die Lernenden erproben ihre Fähigkeit zur Verständigung und Toleranz und üben sich in Solidarität. Der Unterricht bestärkt sie im Sinne der Inklusion, sich und andere anzunehmen. Der Religionsunterricht nimmt als Pflichtfach die religiöse und ethische Dimension des umfassenden Bildungsauftrags der Schule wahr und bietet den Schülerinnen und Schülern eine Begegnung mit dem Bildungsauftrag der Gesellschaft in einem gegenseitigen Dialog. Daher ist er auch Ausdruck der Religionsfreiheit, denn Religionsfreiheit heißt, seine Religion im öffentlichen Raum ausüben zu können und dadurch auch dialogfähig zu sein, um die eigenen Überzeugungen in einer pluralistischen Gesellschaft argumentieren zu können.

Umfassend und praxisnahe
Die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Ausbildung der Religionslehrkräfte ist essenziell für die Effektivität und den Erfolg des Unterrichts. Der Religionsunterricht unterliegt der staatlichen Schulaufsicht. Die Ausbildung der Religionslehrkräfte geschieht an öffentlichen Hochschulen. Innerhalb des Lehramtsstudiums für die Primarstufe kann an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems der Schwerpunkt Religion in all seinen diversen konfessionellen Ausprägungen ausgewählt werden. Damit erwerben die Absolvierenden zwei Lehrbefähigungen. Sie sind Primarstufenlehrkräfte und können darüber hinaus in der Volksschule Religion unterrichten. Mit dieser Kombination erhalten sie auf der einen Seite eine umfassende und praxisnahe pädagogische Ausbildung für die Volksschule, und auf der anderen Seite setzten sie sich mit theologischen, religionspädagogischen und ethischen Fragestellungen auseinander.

Der Religionsunterricht zwingt die Religionsgemeinschaften, sich einer aufgeklärten Gesellschaft zu erklären, und trägt dadurch wesentlich zur Bildung einer respektvollen, toleranten und verantwortungsbewussten Gemeinschaft bei. Der Traum, dass eine religionslose Bildung zu mehr Demokratie führen würde, könnte zu einem bösen Erwachen führen. (Michael Chalupka, Kim Kallinger, 17.6.2024)

Michael Chalupka ist Bischof der Evangelischen Kirche A.B.
Kim Kallinger ist Kirchenrätin für Bildung der Evangelischen Kirche A. u. H.B. sowie stellvertretende Vorsitzende des Hochschulrats der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems.

Gesamter Artikel / derStandard / 17. Juni 2024: https://www.derstandard.at/story/3000000224463/religion-braucht-bildung-bildung-braucht-religion


Foto: Schulstiftung der Erzdiözese Wien / Gabriele Paar